Chur / Schweiz // Gastronomie // Lesedauer 12 Minuten
Woran erkannt man ein Kunstwerk von Qualität? Kann ein Kunstkritiker mit Erfahrung, Studium und Wissen besser urteilen als ein Tourist, der ein Kunstmuseum besichtigt? Wer ein Werk betrachtet, muss aufleuchten, etwas empfinden, er muss es spüren. Wenn die Schöpfung die Seele des Betrachters umarmt, Faszination wachruft oder ihm etwas mitteilt, handelt es sich dann um Kunst?
Im endlosen Meer der Kunstszene muss man geduldig fischen, bis man einen überraschenden Fang macht. Einer, deren Schaffenskraft ein roter Faden durch sein Leben war, war der Churer Künstler Hans Rudolf Giger (1940 – 2014). Als Vertreter des Phantastischen Realismus erlangte er mit seinen Werken Weltruhm. Nebst seiner Arbeit als Künstler wirkte er auch als Kurator und Museumsdirektor. Heute braucht es einen starken Charakter, Mut und Entschlossenheit, Künstler zu werden – oder Unternehmer. Die Parallelen zwischen einem Wirtschaftsführer und einem Künstler liegen nah beieinander. Sie müssen ignoranten Kommentaren widerstehen, den Mut aufbringen, gegen den Strom zu schwimmen und sich zu positionieren. Der Schweizer Kunsthistoriker Tobia Bezzola schätzt Gigers gesellschaftskritische Bissigkeit. «Für mich ist Giger einer der wichtigsten Schweizer Künstler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts», sagt Bezzola einst und stellt den Bündner Künstler auf eine Stufe mit Le Corbusier und Max Bill. Für den Schweizer Kunstkritiker Hans Rudolf Reust, ehemaliger Präsident der Eidgenössischen Kunstkommission, war Giger eine Pop-Ikone, welche in den 70er und 80er Jahren mit Filmen, Interieurs und Plattencover die Faszination junger Generationen weckte. Giger war zeitlebens nie der Darling der Schweizer Kunstszene, obwohl er 1980 einen Oscar für die Filmausstattung zum Blockbuster «Alien» gewann. Reust sieht eine mögliche Erklärung im Stil des Künstlers: «Phantastik und Surrealismus hatten es in der Schweiz nie einfach.» Und das scheint bis heute so zu sein, denn Giger ist mit keinem einzigen Werk in der Eidgenössischen Kunstsammlung vertreten. Liegt es am Zeitgeist oder an der helvetischen Wahrnehmungsbehinderung?
Von der Leinwand ins Herz: Die Faszination, die HR Giger ausübt
Der deutsche Lyriker und Kriegsdichter Erich Limpach meinte einst: «Jedes wahre Kunstwerk offenbart ein Stück der Seele seines Schöpfers». Besser könnte man das Schaffen von Hans Rudolf Giger nicht beschreiben. Eine Retrospektive: Der Schweizer Künstler wurde 1940 in der Bündner Hauptstadt Chur geboren. Seine Eltern, Hans Richard und seine Frau Melly, betrieben eine Apotheke in der Altstadt in der ältesten Stadt der Schweiz. Ein Totenschädel – ein Präsent des Chemieunternehmens Ciba Geigy an seinen Vater – weckte seine Vorliebe für den Verfall, welche bis zu seinem Tod anhielt. Der vielseitige Künstler wurde katholisch erzogen, was seine Kunst beeinflusste. Nach dem Gymnasium und einer Berufsausbildung als Bauzeichner, studierte er ab 1962 Innenarchitektur und Industriedesign an der Kunstschule in Zürich. Während seinem Studium entstanden die ersten faszinierenden Zeichnungen aus Tusche (Atomkinder). Er publizierte seine Werke in der Untergrund-Zeitung HOTCHA! des Künstlers und Performers Urban Gwerder. Weitere Erscheinungen folgten in den Publikationen des Autors und Kunstkritikers Robert A. Fischer. Nach seinem Studium 1966 arbeitete Giger als Designer bei Andreas Christen in Zürich. Wenig später folgte die erste Ausstellung. In den darauffolgenden Jahren schuf er zahlreiche Skulpturen und Bilder, wie die Gebärmaschine, Astreunuchen oder Koffer-Baby. Damit stieg die Bekanntheit und auch kommerziell lief es für den Künstler besser.
Schnell fasste er Fuss in der Entertainment-Branche. Mehr als zwanzig Plattencover gehörten zu seinem Repertoire. Meilensteine waren die Cover von Debbie Harry (KooKoo) und Emerson, Lake and Palmer (Lucky Man). Für den Rockmusiker Jonathan Davis designte er einen Mikrofonständer. Ein Kritiker schimpfte die Arbeiten des Schweizers als «Heavy-Metal-Kitsch». Die Musikindustrie war nur eine Facette von Gigers schöpferischem Talent und eröffnete ihm Zugang zum Film, wo er als Szenen- und Kostümbildner arbeitete. 1979 entwarf er für den Sci-Fi-Blockbuster ALIEN des Regisseurs Ridley Scott das Alien-Wesen. Der Film lehrte Angst und Schrecken und wurde zum Kinohit. Für seine Arbeit wurde der Schweizer Künstler 1980 mit einem Oscar ausgezeichnet und über Nacht weltberühmt.
Vermutlich war es diese Auszeichnung, weshalb die grossen Museen Gigers Schaffen in die Schublade Pop Art steckten. Lange Zeit blieb der Schweizer Surrealist Hollywood treu; in Filmen wie «Poltergeist 2» (1986), «Alien 3» (1992) und «Species» (1995) wirkte er kreativ mit. Seine Bekanntheit stieg weiter mit seinem Schaffen für das Computerspiel «Dark Seed 2» von 1995.
Giger war dreimal verheiratet. Zu seinen Freunden zählten Persönlichkeiten wie der Schweizer Künstler Friedrich Kuhn und der Psychologe Timothy Leary. Seit den 60er Jahren lebte der Churer Künstler mehrheitlich zurückgezogen in einer ehemaligen Arbeitersiedlung in Zürich-Seebach. Sein Haus war voll von seinen Werken. «Meine Bilder sind meine Kinder», interpretierte er seine faszinierenden Arbeiten.
Die faszinierende Welt des Phantastischen Realismus
Die Geburtsstunde des neuen Malstils Phantastischer Realismus ist auf die 1940er-Jahre in Wien, Österreich, zurückzuführen. Zu den ersten avantgardistischen Künstlern zählten Anton Lehmden, Arik Brauer, Wolfgang Hutter, Ernst Fuchs und Rudolf Hausner. Die Kunstschaffenden zeigten eine sehr individuelle Interpretation der Realität. Ihre Werke waren beeinflusst vom Surrealismus, beanspruchten jedoch einen eigenen Stil für sich. Sie präsentierten eine faszinierende Welt zwischen Wahrheit, Vision und Wahn. Ihre Kunst verweigerte die Wirklichkeit, vielmehr blickten sie hinter den äusseren Schein der Welt. Das Ergebnis deckten verborgene Geheimnisse auf und öffneten den Zugang zur Wahrheit. Bedeutende Vertreter des Phantastischen Realismus aus dem vorherigen Jahrhundert waren der Spanier Salvador Dalí, der Belgier René Magritte, der Deutsche Max Ernst sowie der italienische Maler Giorgio de Chirico. Weiter bekannte Künstler dieses Malstils waren Meret Oppenheim, Yves Tanguy, Remedios Varo, Leonora Carrington und Man Ray. Diese Künstler hatten eines gemeinsam; ihre Werke wurden weltweit ausgestellt und diskutiert. Ihr Stil war unverwechselbar und damit leicht zuzuordnen. Viele renommierte Galerien waren mit den Urhebern verbunden, sodass ihre Werke Einzug in den bedeutendsten Sammlungen fanden. Es waren vor allem die Arbeiten des deutschen Malers und Fotografen Hans Bellmer, welche Hans Rudolf Giger zeitlebens stark inspiriert haben.
Was macht HR Gigers Kunst so faszinierend?
HR Giger hat seine Obsession gelebt. In seiner Fantasiewelt hat er viele biografische Einflüsse eingebaut. Die Betrachter seiner grossformatigen Leinwandbilder nimmt er auf einen Trip seiner Dämonen mit. Er hat eigene Ängste zu Papier gebracht. Es ist ein lebendiges Universum, eine jenseitige, fantastische Welt, die was Schwarzromantisches hat. Gigers Bilderkosmos provoziert: nackte Körper, kopulierende Paare, weibliche Geschlechtsteile und Phalli. Darauf angesprochen, meinte er einst: «Schaut mein Werk an, dann wisst ihr, was los ist».
In den 60er-Jahren, also jener Zeit des Kalten Krieges sowie des atomaren Wettrüstens, entwickelte er seinen charakteristischen «biomechanischen Stil» – Menschen und Maschinen verschmelzen, mutieren zu kryptischen Wesen. Idealisierte Frauenkörper sind umgeben von Schläuchen, Schlangen, Gedärmen. Er nannte sie «Biomechanoide». In der Airbrush-Technik, die er massgeblich mitentwickelte, fand er die perfekte Ausdrucksform für die Darstellung seiner Mutanten-Wesen. Was fasziniert an Gigers Kunst? Es ist eine Mischung aus visionärer Fantasie, Kreativität, rätselhafte Bild-Symbolik sowie die technische Perfektion. Das allsehende Auge, in der ägyptischen Mythologie das Auge des Sonnengottes Re und ein Symbol der Freimaurer, fixiert den Betrachter in dem großformatigen Bild Aleph von 1972. Kopulierende Mutanten, Totenschädel und Gerippe, Vulva- und Phallus-Symbole irritieren den Betrachter, sind zu obszön für den Mainstream, faszinieren jedoch seine Fans. Die Masse stilisierte den empathischen Künstler als eine ominöse, geheimnisvolle, irgendwie böse Kreatur, erkannte jedoch nie, wo der Teufel drauf ist, ist noch lange nicht der Teufel drin.
Eintauchen in eine andere Welt: Eine Bar als Hommage an HR Giger
Neben seinen faszinierenden Gemälden erlangten auch seine Skulpturen und Möbel Kultstatus. 1988 eröffnete in Tokio die erste Giger-Bar, die mittlerweile geschlossen wurde. Am 8. Februar 1992, drei Tage nach Gigers 52. Geburtstag, folgte im Geburtsort des Künstlers, der Schweizer Kleinstadt Chur, eine zweite. Mäzen der 1.1 Million Franken teuren Bar war der Churer Architekt Thomas Domenig und seine Frau Marianne.
Nach zweijähriger Bauzeit entstand ein faszinierender Ort, voll mit Skulpturen, Gemälden und Möbel. Wer die schwere, knochige Flügeltür hinter sich lässt, tritt in eine Welt voller Dunkelheit und Mysterium.
Gigers Handschrift ist in jedem Detail des Gastraumes spürbar. Die schwarz grundierten Wände bilden den perfekten Kontrast zu den silbern glänzenden Aluminiumplatten, die den gesamten Boden bedecken. An den Wänden schmiegen sich Spiegel, Wandlampen und Garderobe in organische Formen, während das Licht durch die knochenartige Spiegeldecken filtert und eine geheimnisvolle Atmosphäre schafft.
Jedes noch so kleine Detail der einzelnen Designs kommt zur Geltung. Der Stil ist dominant und unverkennbar und vermitteln ein Gefühl, in einer surrealen Welt zu sein. Lamellen, an der unteren Fensterfront, lassen den Raum verdunkeln. Die Klappfenster darüber sind ebenso wie die gläsernen Tischplatten und die Aluminiumplatten im Biomechanoide-Airbrush-Stil verziert. In der Mitte des Raumes thront die Bar, in deren Zentrum ein weiblicher Biomechanoid-Torso dominiert.
Marianne und Thomas Domenig Gesichtskonturen zieren den Tresen der Bar. In den Nischen dominieren die legendären, rund zwei Meter hohen Harkonnen-Capo-Stühle und laden zum Verweilen ein.
Sie offenbaren einen einzigartigen Blick auf die detailreiche Gestaltung des Interieurs. Mag sein, dass dieser Ort nichts für Zartbesaitete ist, dennoch ist dieses Lokal so aussergewöhnlich wie sein Schöpfer.
Die faszinierende, jedoch vergessene Welt von HR Giger
Während HR Gigers düstere Meisterwerke Millionen weltweit faszinieren, versinkt seine eigene Bar in Chur in einer trostlosen Existenz. Tagsüber mutiert die Oase der Surrealität zum ordinären Tagescafé. Die düsteren Wände, die einmal Albträume zum Leben erweckten, sind nun die Kulisse für belanglose Gespräche. Die einzigartigen, faszinierenden Skulpturen, die einst Scharen von Kunstliebhabern anzogen, werden jetzt von müden Augen übersehen. Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Während der Künstler auf Instagram über 133’000 Follower zählt, Facebook über 62’000 Fans begeistert und auf X mehr als 10’000 Anhänger Giger folgen, bleibt dieser epochale Ort oft leer. Im Sommer 2024 feiern Millionen von Fans weltweit seine Kreaturen im neuen Alien-Blockbuster Romulus. Es ist der zweiterfolgreichste Alien-Film einer langen Serie, die weit über eine Milliarde Dollar eingespielt hat. Ein trauriger Kontrast zur Schweizer Giger Bar.
Liegt es an Chur Tourismus, welche das Potenzial dieser Location nicht erkennen will? Oder scheut Graubünden Ferien und Schweiz Tourismus sich vor der düsteren Ästhetik, die so gar nicht ins Bild der heilen Bergwelt passt? Es scheint so. Der Künstler findet nicht mal eine dunkle Nische auf der Website von Graubünden Cultura. Dass Chur nicht zur Kulturhauptstadt der Schweiz zählt, liegt auf der Hand. Hier führen Genf, Basel und Zürich. Wenigstens würdigt die Churer Politik Ihren grossen Sohn zum 10-jährigen Todestag mit Ausstellungen, einem nach ihm benannten Platz sowie einer Gedenktafel am Geburtshaus in der Churer Altstadt.
Der letzte Satz auf der Gedenktafel trifft einen Nerv: «Heute sind seine wichtigsten Arbeiten im HR Giger Museum in Greyerz ausgestellt». Seit Ende der 1997er-Jahre ist das hübsche Château St. Germain, im Herzen des pittoresken Fribourger Städtchen Gruyères, im Besitz des Künstlers. 1998 eröffnete er sein eigenes weitläufiges Museum, das eine Vielzahl wichtiger Werke aus den verschiedenen Schaffensperioden des Malers ausstellt. Neben Schlüsselwerken wie «The Spell», «Passagen» finden sich hier auch viele Werke aus dem Film-Design. Es beherbergt zudem eine Sammlung fantastischer Kunst. Der Künstler wurde nur ein Steinwurf seines Museums beigesetzt.
Friboug-Tourismus feiert seinen weltbekannten Schlossbesitzer, während die Giger-Bar in Chur dahinvegetiert und im 21. Jahrhundert nicht mal über einen Online-Auftritt verfügt – geschweige denn über irgendeinen Social-Media-Auftritt. Es ist bedauernswert, denn es ist ein Kultort, ein Pilgerziel für alle, die sich von der Kunst des Surrealismus faszinieren lassen. Ein Ort, an dem man eintauchen kann in eine Welt, die so fern und doch so nah ist. Es ist ein Skandal, dass ein bedeutendes Juwel so vernachlässigt wird. Ein Schlag ins Gesicht aller Kunstliebhaber und ein Verlust für den Tourismus in der Region. Da verstaubt Gigers Vermächtnis in einer dunklen Ecke im Herzen von Graubünden. Diese Bar verdient mehr als nur ein Dasein als Tagescafé. Sie verdient es, als das gefeiert zu werden, was sie ist: Ein einzigartiges Kunstwerk, das Besucher aus aller Welt anziehen könnte.
Fazit
Die Gastronomie ist ein Verdrängungsmarkt. Eröffnungen folgen auf Schliessungen – kaum eine Branche ist so schnelllebig wie das Gaststättengewerbe. Clever, wer mit einem Künstler von Weltruhm kooperiert, denn Kunst und Kommerz sind längst ein Paar. Eine solche Pionierleistung ist Ende der 1990er Jahre geschehen; erfolgreicher Architekt trifft auf den weltberühmten Meister des Phantastischen Realismus. Entstanden ist eine grossartig designte Bar, welche so einzigartig ist wie ihr Schöpfer, der Schweizer Künstler und Oscarpreisträger Hans Rudolf Giger. Seine Schaffensphase, die sich wie ein roter Faden durch sein Leben zog, war düster, ausserirdisch und ein bisschen pornös. Es sind diese Alleinstellungsmerkmale, welche eine von Giger designte Bar besser schützen, als jeder Patentschutz. Die Popularität des Malers macht die Giger Bar zum Kult-Ort und Pilgerort für seine Fans. Gedanken zur Gewinnmaximierung gehören damit der Vergangenheit an. Werden diese positiven Markt-Voraussetzungen mit einem neuen Kino-Blockbuster befeuert, wie im Sommer 2024 mit Romulus, müsste bei jedem Unternehmer die Glocken klingeln. Pächter, Kunstkritiker und Tourismusorganisationen erkennen das Marketingpotential der Giger Bar kaum und so fristet diese Schänke ein oft menschenleeres Dasein im Ferien-Hotspot der Schweiz. Liegt es am Zeitgeist oder an der helvetischen Wahrnehmungsbehinderung? A SPECIAL COMPANY hebt das Glas auf den Alien-Erfinder, der seinerzeit über sein Lebenswerk urteilte: «Auch wenn ich mal nicht mehr da bin, meine Kunst lebt weiter». Richtig! Ob auf Leinwand, im Kino oder in einer Bar in den Schweizer Alpen. Over and out.
Giger Bar
Comercialstrasse 19
7000 Chur
T +41 81 253 75 06
Täglich geöffnet von Montag bis Samstag
Museum HR Giger
Château St. Germain
1663 Gruyères
www.hrgigermuseum.com
Sommer: Montag bis Sonntag von 10 bis 20.30 Uhr
Winter: Montag bis Freitag von 10 bis 18 Uhr, Wochenende von 10 bis 16.30 Uhr
Hans Rudolf Giger (1940 -2014)
www.hrgiger.com
www.instagram.com/giger_art
www.facebook.com/TheHRGiger
www.x.com/GigerArt
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